Es ist Mittwoch Nachmittag, ich zwänge mich durch die Wiener Mariahilfer Straße, weil ich etwas besorgen muss, und sehe sie schon von Weitem. Eine Person mit bunter Jacke und breitem Grinsen im Gesicht. Ich laufe genau auf sie zu. „Reg dich nicht auf, die tun auch nur ihren Job“, erinnere ich mich. „Hey du!“, spricht sie mich an. Ich höre gar nicht hin, für welches Thema ich mich begeistern soll, sondern wimmle sie kurz und knapp ab. Ich bin eine Studentin ohne Einkommen, ich bemühe mich, ökosoziale Projekte mit meiner Zeit zu unterstützen, aber ich habe kein Geld, um monatlich einen Fixbetrag an NGOs zu spenden.
Ich bin doch jedes Mal ein wenig genervt, wenn ich Werber:innen sehe, weil ich das Gefühl habe, dass sie vornehmlich Studierende und alte Leute in die Mangel nehmen. Weil die am ehesten noch ein Herz haben. Es wäre zwar angebrachter, sich in den ersten Bezirk vor die Unternehmensberatungen zu stellen, aber von denen spendet wohl sowieso niemand. Außerdem finde ich es anstrengend, mit der Positivität dieser Werber:innen überrumpelt zu werden. Gerade auf der reizüberflutenden Mariahilfer Straße. Aber eben: auch sie machen einfach ihren Job, mit dem sie bestimmt versuchen, etwas zu einem guten Zweck beizutragen. Und dafür haben sie genauso viel Respekt verdient wie alle anderen.
Wie ist es tatsächlich, für so eine Institution zu arbeiten? Ich stelle es mir anstrengend vor. Stundenlanges Herumgehen bei jedem Wetter und immer die gute Laune behalten. Egal, welche Antworten man bekommt. Auch wenn ich überzeugt bin, dass die Menschen einem üblicherweise Gutes wünschen, sind manche einfach grantig. Für die ist man bestimmt ein gefundenes Fressen, um Frust abzulassen. Dafür arbeitet man für einen guten Zweck und kann so das Unangenehme – Lohnarbeit – mit dem Nützlichen verbinden – die Welt zu retten. Aber das ist ja nur meine Vorstellung.
Elia hat vier Monate für Amnesty International und den WWF geworben. Von seinem anfänglichen Idealismus in Bezug auf diesen Job war am Ende nichts mehr übrig. Er kündigte enttäuscht, frustriert und schockiert von der Art, wie eine Menschen- bzw. Tierrechtsorganisation die eigenen Mitarbeiter:innen behandelt. Er erlebte, wie er und seine Kolleg:innen unter Druck gesetzt wurden, wie man ihnen mit der Kündigung drohte und sie bei ihrer Arbeit überwachte.
Dabei startete er mit großer Motivation: „Natürlich war mir klar, dass ich die Welt von einem Tag auf den anderen nicht großartig verändern werde. Aber in gewisser Weise erhoffte ich es mir schon! Für mich fängt es bei den kleinen Schritten an und ich wollte die Themen in den Köpfen der Menschen verankern.“ Elia ist 20 Jahre alt und wohnt in Innsbruck. Er beschreibt sich als rebellischen Menschen, dem Menschenrechte und die Bekämpfung der Ungerechtigkeiten am Herzen liegen. Also bewarb er sich als Werber – oder „Fundraiser“, wie Amnesty/WWF es auf der Website nennen.
Obwohl er für das Bewerbungsgespräch zehn Stunden in einer Videokonferenz sitzen musste, startete er mit voller Motivation. Er lernte eine ganze Seite mit einem Gesprächsleitfaden auswendig – Einleitung, Hauptteil, Spendenerklärung und Schluss, mit genau festgelegter Reihenfolge, um die Gesprächspartner:innen „einzulullen“, wie Elia es beschreibt.
Die ersten Gespräche waren aufregend, auch wenn Elia die ersten Wochen keine Spender:innen anwerben konnte. Im Gegenzug zu den Leuten, die mich auf der Mariahilfer Straße aufgehalten haben, war es die Aufgabe seines Teams, von Tür zu Tür zu streifen und Menschen zu Hause zu überraschen. „Es war immer spannend, wer schlussendlich öffnete und wie er:sie auf dich reagierte. Es war wie ein riesengroßes Referat vor allen Leuten dieser Erde. Und ich führte durchaus nette Gespräche.“
Aber der Druck stieg – denn seine Teamleiter:innen wollten Zahlen sehen. So drohten sie neuen Kolleg:innen mit der Kündigung, wenn sie nicht innerhalb der ersten Woche schon Spender:innen melden. Mit der Zeit wuchs Elia aber in seinen Job hinein.
Es blieb eine stressige Arbeit. Gelang es Elia endlich, eine Person zu überzeugen, war er erleichtert. Doch es waren gemischte Gefühle. „Wenn du nach Hause kommst und es geschafft hast, fünf Menschen zu überzeugen, war das schon toll! Aber es hatte alles immer einen faden Beigeschmack, weil du nicht die ehrlichste Haut warst.“ Elia spricht über die Sache mit den Daueraufträgen. Jede Spende, die Elia erreicht, wird monatlich abgebucht. Doch das sollte im Gespräch nur am Rande erwähnt werden. Es wäre wichtiger, die Menschen zu überzeugen und ihnen zu sagen, was sie hören wollen. So aufdringlich wie möglich.
Dieses Verhalten wurde von der Organisation belohnt. Wer regelmäßig Spender:innen schreibt, bekommt einen höheren Verdienst, da man die Möglichkeit hat, Prämien zu bekommen. Jedoch ging es nicht um die absolute Anzahl der Angeworbenen. Eine Person, die dreimal im Monat sieben Spender:innen einbrachte, bekam dafür keinen Cent Bonus, obwohl sieben eine unglaublich hohe Zahl ist. Das Prämiensystem verlangte laut Elia, dass pro Arbeitstag mehr als ein:e Spender:in angeworben wurde. Nicht durchschnittlich. Auch wenn du schon drei Wochen oder sogar drei Monate durchgehalten hast, fliegst du nach dem zweiten erfolglosen Tag raus. Das bedeutet, dass auf jedem Tag der Druck lastete, den Bonusverdienst vielleicht zu verlieren. Dabei waren manche darauf angewiesen – das Grundgehalt lag für Elias Stelle monatlich zwischen 1.000 und 1.400 Euro bei 21 Stunden pro Woche. Elia erschöpfte der Stress.
Seinen Kolleg:innen ging es nicht besser. Manche kündigten nach dem ersten Tag, andere hielten ein paar Wochen durch, viele wurden gekündigt, weil sie nicht genug Geld lieferten. Trotz der Fluktuationen wuchs Elia mit seinen Teammitgliedern zusammen. Schließlich saßen sie im gleichen Boot. Sie gingen auch zu zweit oder dritt durch die Straßen. Das war nicht nur angenehmer, sondern in der Überzeugungsarbeit auch einfacher. Erlaubt war es ihnen nicht – denn getrennt könnten sie mehr Wohnungen abdecken.
Persönlich gab es kaum Probleme mit den Teamleiter:innen. Obwohl das Verhältnis nicht auf Vertrauen gebaut war. Über das Tablet, auf dem Elia die Spenden registrierte, wurde er auf Schritt und Tritt verfolgt. Nicht nur seine Leistung, sondern auch, wo er sich aufhielt und wie lange. Wenn es nicht gut genug lief, wurden sie sogar von der Teamleiterin begleitet, die kontrollierte, ob der Leitfaden abgearbeitet wurde. Wenn sie es für richtig hielt, auch den ganzen Tag.
Es wirkt absurd. Eine Organisation, die sich weltweit für Menschenrechte und Tierwohl einsetzt, die sich gegen unterdrückerische Systeme einsetzt, weist intern die Mitarbeiter:innen an, Menschen nach maschinistischem Schema um den Finger zu wickeln und übt fast autoritären Druck auf sie aus. Ist die Erfahrung von Elias und seinen Kolleg:innen ein Einzelfall? Ist es ein Problem von Amnesty International und dem WWF in Österreich oder handelt es sich hierbei um ein größeres System?
Tjorven hat bessere Erfahrungen gemacht. Er arbeitete zwar nur eine Woche als Werber für World Vision in Deutschland, dafür gleich neun Stunden am Tag. Diese Art, blockweise bis zu ein paar Monate am Stück zu werben, ist nicht unüblich. So verdient man bis zu 4.000 Euro in einem Monat. Wenn er um 19 Uhr mit seinem Team in ihre Unterkunft zurückkehrte, war er zwar müde, aber zufrieden. „Der Job ist sehr anstrengend und fordernd, sowohl mental als auch körperlich. Ich hatte jeden Tag etwa 30 Kilometer auf meinem Schrittzähler, und in 99 von 100 Ansprachen bekommt man nur ein „Nein, keine Zeit“, „Verpiss dich!“ oder Schlimmeres zu hören. Dafür haben wir ein paar ziemlich gute Tipps bekommen, wie man damit umgeht. Auch wie man sich selbst (wieder) motiviert, wenn es mal nicht so läuft. Man lernt, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, was eine gewisse Leichtigkeit mit sich bringt.“ So wurde eine anstrengende Arbeit fast ein wenig wie Klassenfahrt. Auch bei World Vision gab es Mindestquoten zu erfüllen. Tjorvens Leistung war nicht hoch genug und so wurde er nach einer Woche wieder nach Hause geschickt. Dennoch kam er mit einem positiven Blick auf die Arbeit zurück. Der Leistungsdruck war da, aber er konnte auch viel durch diese Arbeit lernen.
Anatina hat sogar zwei Jahre hintereinander im Sommer geworben. Nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern wegen des Geldes. Im ersten Jahr verdiente sie in sechs Wochen knapp 1.800 Euro, was für sie damals viel war. Bei den Maltesern, für die sie geworben hat, lief die Entlohnung nur über Provision, also pro Spender:in. Im Vergleich zu Systemen, wo man bereits ein Fixum bekommt, käme so viel weniger Drang von oben, meint Anatina. „Wenn man nicht gut in dem Job war, hat man auch nichts verdient. Eigentlich bin ich kein Fan von dieser Art von Entlohnungssystemen, aber für diese Art Arbeit bietet sich auch kaum ein anderes an. So haben wir von unserem Arbeitgeber keinerlei Druck bekommen, tatsächlich etwas zu verdienen.“ Wenn sie nach ihrem Gefühl schon genug hatte, hätte sie auch schon zu Mittag Schluss machen können. So erlebte Anatina ihre Arbeit relativ entspannt: „Wenn ich nette Gespräche hatte, hatte ich am Ende des Tages meistens gute Laune. Auch wenn ich niemanden aufgeschrieben habe.“
Um mehr über das System „Werben“ herauszufinden, habe ich mich selbst bei Amnesty International in Deutschland beworben. Schwer ist es nicht – persönliche Daten ausfüllen und ein Textfeld zu der persönlichen Motivation. Vier Werktage später bekomme ich einen Anruf. Von den Informationen, die ich aus dem Gespräch entnehmen kann, scheint das System hier wieder anders organisiert zu sein. Die Prämien beziehen tatsächlich die einzelnen Spender:innen mit ein und nicht erst ab einem Minimum. Dafür ist das Fixum mit 96 Euro pro Tag etwas niedriger als das Äquivalent bei Amnesty/WWF in Österreich.
Das System „Werben“ gibt es also nicht. Manche werben auf der Straße, andere gehen von Tür zu Tür, es gibt langfristige Stellen sowie Sommerjobs mit und ohne Fixum. Hinzu kommen regionale Unterschiede. Problematische Aspekte gibt es in jedem Fall. Auch Anatina fühlte sich nicht immer wohl, wenn sie eine:n Spender:in anwerben konnte. „Man ist bei manchen Menschen doch sehr weit gegangen, um sie aufzuschreiben, obwohl man genau gewusst hat, dass sie es sich eigentlich nicht leisten können.“ Sie ist von diesem Fundraising Konzept nicht überzeugt, Werbeaktionen fände sie sinnvoller.
Trotz seiner schlechten Erfahrungen ist auch Elias Fazit gemischt: „Nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass Amnesty und der WWF eine gute Sache machen und in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie etwas erreichen können. Aber wenn ich Werber:innen treffe, stoßt es mir übel auf, weil ich weiß, unter welchem Druck sie stehen.“ Dass NGOs auf private Spenden angewiesen sind, ist aus seiner Sicht in Ordnung. Doch die Art, wie versucht wird, diese zu erreichen, ist einer Menschen- und Tierrechtsorganisation nicht würdig. Es muss auch einen fairen Weg geben, mit den Mitarbeiter:innen und Spender:innen umzugehen.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Illustration: Jens Feddersen
Weitere Arbeiten von Jens Feddersen findest du auf seiner Homepage.

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.