WARNUNG: Das Folgende thematisiert Tod.
Ich bin in meinen Zwanzigern und vor 15 Jahren ist mein Vater gestorben. Während ich diesen Satz schreibe, sitze ich zwischen benutzten Papiertaschentüchern, zu viel Schokoeis und selbst gemachtem Pfirsicheistee auf meinem Balkon und denke über das Universum nach. Und während ich den letzten Satz noch mal lese, merke ich, dass er so klingt, als hätte ich Liebeskummer – was nicht der Fall ist, jedenfalls aktuell nicht. Ich habe eine fette Sommererkältung und das nervt noch viel mehr als im Winter, wo es irgendwie zum guten Ton gehört, sich wenigstens einmal pro Saison zu erkälten. Aber nein, es muss ja ein Juliabend sein.
Ein Juliabend, an dem ich also ungewöhnlich viel Zeit für mich alleine habe. So viel, dass ich Stephen Hawkings A Brief History of Time verschlinge, bis mein Kopf nicht mehr nur von verstopften Nebenhöhlen pocht. Wie sieht es in einem schwarzen Loch aus? Was kommt am Ende des Universums und aller Zeit? Und wieso läuft die Zeit nicht rückwärts? Je größer die Fragen, desto weiter ziehen sie mich hinaus ins All.
Manchmal sehe ich die Welt von oben. Von hier ist der blaue Planet so ganz. Von hier sehe ich alles winzig klein. Und für einen Moment setzt sich alles in Perspektive. Wie winzig ich aussehe, auf meinem Balkon und noch kleiner die Dinge, die passieren. Zum Beispiel, dass ich seit fast einem Jahr zur Therapie gehe. Dass ich als Halbwaise aufgewachsen bin und mir beim Aussprechen dieses Wortes immer noch schlecht wird. Dass ich nicht mehr weiß, was meinen Vater zum Lachen oder zum Weinen gebracht hat, dass der Klang seiner Stimme ein fernes Echo in meinem Ohr ist. Dass ich nicht mehr weiß, wie sich seine Nähe angefühlt hat. Dass meine Mutter die Liebe ihres Lebens verloren hat, was mittlerweile, da ich die Liebe kennengelernt habe, fast das Schlimmste an der Sache ist.
Ich möchte mich in diesem Text nicht ausheulen. Dafür habe ich schließlich die Therapeutin. Ich möchte darüber schreiben, dass Therapie nichts ist, wofür man sich schämen muss. Dass man nicht gestört ist, wenn man sich Hilfe sucht. Denn manche Sachen sind zu groß, um sie allein zu tragen. Manchmal braucht man ein zusätzliches Paar Schultern. Und das ist okay.
Vor einem Jahr habe ich beschlossen, mir Hilfe zu holen und das größte Geschehnis meiner Kindheit in professionelle Hände zu legen. Jemanden zum Zuhören zu suchen, der:die mir hilft, die Dinge in mir zu ordnen und in Perspektive zu setzen. Jemanden, der:die mich hinaus ins All schießt und wieder auffängt. Der:die mir hilft, Strategien zu finden, wie das, was mir passiert ist, seinen eigenen Raum bekommt und mich nicht kalt überrascht. Damit meine Beziehungen zu anderen Menschen nicht zu sehr davon beeinflusst werden, was passiert ist. Das bedeutet nicht, dass durch Therapie die Trauer weggeht. Nein, die Trauer bleibt vermutlich für immer und das ist nach einem Jahr des Darüber-Redens auch irgendwie in Ordnung. Aber sie definiert mich nicht, denn sie hat ihren Raum und ich habe meinen.
An diesen Punkt zu kommen, war nicht einfach. Monatelang habe ich es vor mir hergeschoben, einen Therapieplatz zu suchen. Den Hörer abzunehmen und eine Nummer zu wählen, schien das Schwerste seit Langem. Es ist schwer, sich zu sagen, ich brauche eine Therapie, ohne sich krank zu fühlen. Es ist schwer, jemandem einen Schmerz anzuvertrauen, auch wenn der Schmerz gut eingepackt ist. Eine Weile dachte ich, das sei das Problem, mit Fremden über so etwas Privates zu sprechen. Aber der größte Berg war ich selbst. Über ein Jahrzehnt trage ich den Verlust in mir herum. Im Alltag zeigt er sich selten. Ich bin eine fröhliche Person mit optimistischem Denken, in meinem Alltag spielt Trauer keine große Rolle. Ohne Vater aufzuwachsen ist normal geworden. Und auch wenn ich einige Erinnerungen an meinen Vater habe, also an die Zeit davor, kann ich nun sagen, ich kenne es kaum anders. Doch immer wieder habe ich eine Schwere in mir, seitdem. Eine Schwere, die die Zeit danach immer begleitet hat.
Der Wunsch, mit einer:m Therapeut:in zu sprechen, kam von selbst, nichts hat sich verändert. Mir war nur klar, ich muss mal mit jemandem darüber sprechen, der:die Profi ist im Über-Probleme-Reden. Der Entschluss war leicht gefasst. Es wirklich zu tun, war schwer.
Was mich besonders zögern ließ, war die Angst vor einer Absage. Der Gedanke, unendlich viele Nummern wählen zu müssen, bis ich schließlich komplett zermürbt bin, lähmte mich zunächst. Von der Sozialberatungsstelle des Studierendenwerks meiner Stadt bekam ich eine lange Liste mit Adressen von Therapeut:innen. Viele gesichtslose Namen mit nichtssagenden Nummern. Diese Liste pinnte ich mit einer weißen Nadel an die Wand in meinem WG-Zimmer und dort hing sie dann, wochenlang.
Was soll ich sagen, ich habe es schließlich getan, ich habe angerufen. Und das habe ich meiner Mitbewohnerin zu verdanken, die so viel mehr war: Freundin, Schwester, Partnerin in Crime in diesem unübersichtlichen, gigantischen jungen Erwachsenenleben. Sie studierte damals Psychologie und kannte sich in diesem Therapie-Kosmos ein wenig mehr aus als ich. „Ja, Clara”, sagte sie zu mir, „die meisten Leute warten Monate auf einen Therapieplatz, wenn nicht sogar Jahre. Aber dein Anliegen ist so klar und konkret, da ist es für viele Therapeut:innen sicher vielversprechend, dass die Therapie ein Erfolg wird.” An diesen Satz klammerte sich mein pochendes Herz, als ich den Hörer abnahm. Und vielleicht war es einfach Glück, dass gleich der zweite Name, dessen Nummer ich wählte, mir einen Termin in drei Wochen anbot.
Also bin ich hingegangen. Bei der älteren Dame mit moderner Kunst an der Wand ihrer Praxis und einem Zimmerbrunnen, so rund wie der Mond – ja, eine wirkliche Therapeutin! – habe ich mich direkt wohlgefühlt. Denn sie zeigt kein Mitleid, sondern Verständnis. Sie hat ein großes Herz, aber auch Kanten. Sie hört zu, aber teilt auch ihre Meinung. Und wenn ich nicht mehr weiß, was ich erzählen soll, stellt sie die richtigen Fragen. Oft lacht sie herzlich über Dinge, die ich sage, und ich kann nicht umhin mitzulachen, denn auf einmal tun sich neue Perspektiven auf meine Gedanken auf. Und dann wird es leichter. Immer wieder erzählt sie auch etwas aus ihrem Leben, und dann wird das Bild der Person mir gegenüber farbiger, konkreter und mein Inneres steht nicht mehr ganz allein in diesem gemütlichen Raum. Und ich merkte, das ist ein Raum zum Sein, zum Sprechen, wo das, was ich sage, keine Auswirkungen auf meine Beziehung zum Gegenüber hat. Ein Paralleluniversum, wo Teile von mir groß sein dürfen, die im Alltag klein sind.
Manche meiner Freund:innen sagen „Das ist echt stark von dir. Stark, dass du dort hingehst, dass du den Mut hast, dich um deine mentale Gesundheit zu kümmern und dieses Therapie-Tabu zu durchbrechen.” Denn es ist ein sensibles Thema und während ich offen über dieses Thema schreibe, habe ich zittrige Hände und zuweilen ein nervöses Gefühl im Bauch. Ich habe mich zu Beginn der Therapie geschämt und gedacht, ich hätte einen Schaden. Oft hallte in meinem Ohr die Stimme von Marc-Uwe Klings Känguru: „Ich bin doch hier nicht das Systemopfer mit der Psychomacke!“. Warum fühlt es sich so defizitär an, manche Dinge einfach nicht allein zu schaffen? Heute weiß ich, es ist kein Schaden, den ich erlitten habe, sondern ein Verlust.
Doch noch immer wissen nicht alle Personen in meinem Umfeld darüber Bescheid, dass ich eine Therapie mache. Aber ich versuche, immer offener darüber zu sprechen und jedes Mal ist es weniger schlimm und jede Zeile dieses Textes geht mir etwas leichter von der Hand. Und vielleicht ist es stark, zur Therapie zu gehen oder diesen Text zu schreiben, aber ich hatte auch keine andere Wahl. Es war keine Option, nicht stärker als die Schwere zu sein. Ich kann mich kaum erinnern, dass ich jemals nicht stark sein musste. Und vielleicht hat mich der Tod meines Vaters und alles, was das ausgelöst hat, stark gemacht. Vielleicht ist dies das Positive, was dabei herauskam, denn irgendwas Positives gibt es ja immer.
Aber wirklich stark fühle ich mich jetzt, nachdem ich mir die Schwäche zugestanden habe. Jetzt, wo ich nicht mehr gegen das ankämpfe, was passiert ist. Und nach einem Jahr merke ich langsam, dass ich sie bald nicht mehr brauche, die nette Dame mit dem Zimmerbrunnen, der so rund ist wie der Mond. Weil irgendetwas in mir ruhig geworden ist, so friedlich wie der Blick auf die Erde aus dem All oder ein klarer Sternenhimmel an einem Winterabend. Weil die Trauer und ich ein Team geworden sind.
Autorin: Clara, Bild: Michelle Dipp
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