Immer wieder fragen mich die Leute, warum ich eigentlich keinen Führerschein habe. 27 Jahre und kein Auto, was ist denn da schief gelaufen. Heutzutage, da braucht man ja eines, um die zehn Meter zum Supermarkt zu fahren. Alles andere wäre unbequem oder gar Zeitverschwendung. Sehe ich anders. Zwar ist es nicht immer einfach, von A nach B ohne Auto zu kommen, jedoch wird man deutlich kreativer und dazu lernt man seine Stadt auf eine ganz andere Art und Weise kennen. Ich zum Beispiel, fahre richtig gerne Fahrrad. Nicht besonders schnell und wirklich sicher wohl auch nicht. Ich achte nicht auf Verkehrszeichen, fahre meistens über Rot und benutze dazu des Öfteren den falschen Fahrradweg – aus Versehen natürlich! Wahrscheinlich mit unter einer der Gründe, warum ich keinen Führerschein besitze. Doch der wahre Grund ist ein anderer. Zugegeben, anfangs war mir die Geschichte noch etwas peinlich. Manchmal fühle ich mich wie eine Idiotin, wenn ich auf dem Beifahrersitz Platz nehme und das immer und immer wieder. Andererseits ist es schon bequem. Dadurch habe ich nie das Problem, dass ich auf meinen Pegel aufpassen muss oder gar auf den Weg. Kann schön vor mich hin träumen und aus dem Fenster schauen. Okay, ich schweife ab. Jetzt aber, jetzt erzähle ich dir, warum ich keinen Führerschein habe.
Es war mein 18-Jähriges ich, das mir den Schlamassel einbrockte. Damals nach der Realschule wechselte ich auf die Fachoberschule, um mein Abitur nachzuholen. Ich glaube, ich war zu dem Zeitpunkt schon ein Jahr in der dieser Klasse. Na ja, jedenfalls ging ich mit einer Klassenkameradin einen Trinken. Es war das erste Mal, dass wir uns verabredet hatten. Das erste Mal. Wir trafen uns an der U-Bahn und gingen anschließend in eine Bar. Alle Plätze waren belegt, bis auf zwei Hocker an der Bar. Optimal dachte ich, dann bekommen wir auch direkt Drinks. Keine gute Einstellung. Wir fingen mit Cocktails an. So süß wie die schmecken, bekommt man schnell Lust auf mehr. Wir bestellten die nächste Runde. Bis dahin war der Abend noch ziemlich lustig. Gespräche über dies und das und jenen. Hätte ’ne tolle Freundschaft werden können. Irgendwann bekam ich Lust auf mehr. Nach einer Flirterei mit dem Barkeeper bestellte ich Tequila Shots. Es war nichts Neues, dass der Abend aufgrund dieses kleinen Teufels eskalierte, ich hätte es also besser wissen können. Hab’s trotzdem gemacht. Ich weiß nicht mehr genau, wie viele es waren, wahrscheinlich einige. Zumindest so viele, dass ich mein Geld komplett verbraten hatte und mir noch was leihen musste. Von diesem Zeitpunkt an kann ich mir nicht mehr erinnern.
Das nächste, was mir einfällt, ist, dass ich nackt an einem Bett gefesselt bin. Ich habe einen Kittel an, das ist aber auch schon alles. Mein Schädel dröhnt. Nach wenigen Sekunden komme ich einigermaßen klar und schaue mich um. Neben mir liegt ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Sie weint. Hat ebenfalls nur ein Hemd an und ist ans Bett gebunden. Sie war die Nacht zuvor auf dem Volksfest, hatte es ebenfalls übertrieben und landete deshalb zusammen mit mir in der Ausnüchterungszelle. Nackt waren wir, weil wir uns entweder selbst angekotzt hatten oder es nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette schafften. So wie wir rochen, war beides plausibel. Nachdem wir uns gegenseitig beruhigten, uns unsere Schandtaten erzählten und versuchten, uns nicht zu übergeben, kam eine Schwester rein. Sie brachte Licht ins Dunkle und berichtete mir, wieso ich im Krankenhaus landete. Nachdem ich mich ins Knockout geschlürft hatte und an der Theke einschlief, blieben meiner Freundin und dem Barkeeper wohl nichts anderes übrig, als den Krankenwagen zu rufen. Machten sie, danach düste das Girl ab. Mehr Informationen gab es erst mal nicht. War auch nicht so wichtig, viel wichtiger war nun, wie ich denn eigentlich heimkommen sollte.
Die Öffentlichen waren keine akzeptable Alternative. Auf gar keinen Fall. Meine Klamotten dufteten, wie von einem Hund markiert und mein Gesicht sah aus, als ob ich drei Tage durchgeheult hätte. Ein bisschen was von einem Waschbären hatte es dazu. Nicht straßentauglich. Ich rief meine Mutter an. Sie wollte erst mal wissen, wo ich die ganze Nacht war. Ich erklärte es ihr. Ihre Stimme war bereits beim Abheben nicht gut gestimmt. Jetzt klang sie überhaupt nicht gut. Sie war kurz angebunden, meinte, sie müsse arbeiten und hat jetzt keine Zeit. Wer trinken kann, kann auch mit dem Bus fahren. Wir wohnten nicht gerade um die Ecke. Mit den Öffentlichen hätte ich über eine Stunde nach Hause gebraucht. Ich konnte kaum laufen, außerdem fing ich an zu heulen. Die Schwester kam erneut rein. Das Zimmer musste frei geräumt werden. Da rief ich meine damalige beste Freundin an. Ihr Vater war schon immer unser Notfallkontakt in solchen Dingen. Egal was war, er holte uns ab. Ich hoffte auch diesmal darauf. Fünfzehn Minuten später waren sie am Eingang. Ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass das einer der unangenehmsten Momente in meinem Leben war. Zumal ich eh schon als Übeltäterin bekannt war und schlechter Umgang für meine Freundin war. Laut Eltern. Ich konnte mich während der Fahrt selbst nicht riechen, fragte mich, wie es den anderen ging. Die Autofahrt war nur halb so schlimm, ich erzählte meine Geschichte, druckste ein bisschen rum, schämte mich. Meine Freundin lachte, ihr Vater schüttelte den Kopf. Sie setzten mich zuhause ab, auf eine Umarmung zum Abschied verzichteten sie. Ich war unendlich dankbar. Bis heute. Als ich den Schlüssel umdrehte und zuhause ankam, wartete meine Mutter bereits auf mich. Arbeiten war sie natürlich nicht. Das war mal wieder so eine Lektion, die ich lernen durfte. Im Nachhinein wohl angemessen. Ich musste mir erstmal eine lange, schmerzhafte Standpauke anhören und durfte dann endlich duschen.
Wenige Wochen danach erhielt ich einen Brief von der Führerscheinbehörde, ich sollte einen MPU machen. Die Fahrstunden wurden erst mal gestrichen. Warum ich einen Idiotentest machen sollte, obwohl ich doch zu Fuß unterwegs war, ist mir bis heute ein Rätsel. Doch mein kleiner Aussetzer stufte mich scheinbar als unzumutbare Autofahrerin ein. Ich beschloss, den Test nicht zu machen. Hatte keine Lust und das nötige Kleingeld dafür hatte ich auch nicht parat. Einige Jahre später, entschied ich mich um. Das Amt hatte glücklicherweise nicht die ordentlichste Aktensammlung, sodass meine Unterlagen nicht mehr auffindbar waren. Ich konnte also wieder Fahrstunden nehmen. Nachdem ich dreimal durch die Theorieprüfung flog, entschied ich mich wieder dagegen. Bis heute glücklich mit meiner Entscheidung. Neben einem Haufen Geld spare ich noch nervenaufreibende Zeit hinterm Steuer. Vielleicht könnte man auch meinen, dass ich mir die Dinge nur schön rede. Ich bin okay damit und auch an diese Geschichte erinnere ich mich irgendwie ganz gerne.
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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.