Das Runner-High ist ein Glücksmoment, den jeder Langstreckenläufer nur allzu gut kennt. Die Euphorie, die sich nach dem kilometerlangen Laufen einstellt, erhalte ich aus dem Fitnessstudio. Verantwortlich dafür sind biochemische Prozesse, die Ausschüttung sogenannter Endorphine. Sie regulieren Appetit, Schmerzen, Stoffwechsel, Stimmung, Energie, Schlaf und Stressreaktionen. Seit zwei Wochen befinden sich Barcelonas Fitnessstudios erneut im Lockdown, weshalb ich auf das freudige Erlebnis verzichten muss und mich stattdessen einfach glücklich esse – nicht besonders effektiv. Morgens mit einem aufgeblähten Bauch aufzuwachen ist ziemlich scheiße. Als wäre das nicht genug, quälen mich noch Symptome wie schlechte Laune und Trägheit. Aber das ist okay, manchmal gibt es solche Tage. Im Normalfall werde ich davon erlöst, sobald ich trainieren gehe.
Laufen bzw. Joggen ist eine der schönsten Sportarten der Welt, trotzdem mag ich sie nicht. Das liegt unter anderem daran, dass es sie im Freien praktiziert wird und ich viele Ausreden habe. Um meinen inneren Schweinehund zu überwinden, braucht es manchmal nicht mehr als einen Mitbewohner, der mir sagt, dass ich ein faules Stück bin. Also habe ich mich heute Morgen zusammengerissen und bin joggen gegangen.
Irgendwann gegen Ende meines Konditionstrainings musste ich an den italienischen DJ Marco Faraone denken, der im Jahr 2016 mein Leben verändert hatte. Wir trafen uns in einem Nürnberger Club, die Rakete – wir hatten keine Verabredung oder so, er hatte einen Gig. Die meisten treuen Fans tanzen in der ersten Reihe, so wie ich, und zwar direkt neben den Lautsprechern des Funktion One-Systems: Sie zählt nicht nur zu den besten Anlagen, die man in einem Club finden kann, sondern auch zu den lautesten. Ich weiß noch, dass die Schmerzen mit „Boost“, meinem damaligen Lieblingstrack, anfingen.
Wenn man Samstagmorgen nach einer langen Clubnacht aufwacht, ist es normal, dass man neben einem brummenden Schädel ein Pfeifen und Zischen hört. Diese Geräusche haben eine Bezeichnung: Tinnitus. Sie treten ein, wenn das Gehör zu viel Lärm ausgesetzt wurde und wenn man wie ich im Rausch alle Warnsignale ignoriert und keinen Gehörschutz verwendet hat.
Nicht normal ist es, wenn man das Pfeifen zwei Tage später immer noch da ist und das so lautstark, dass ich meinen Gegenüber kaum verstehen kann. Was ich in diesem Moment gemacht habe? Panik geschoben. Ich fing an, meine Symptome zu googeln, und fand heraus, dass ich womöglich einen Hörschaden haben könnte. Außerdem las ich, dass ein Tinnitus sogar noch Wochen, Monate oder länger bleiben kann. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu weinen, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit bleibenden Schäden konfrontiert wurde, und das schockierte mich – denn wenn man Pech hat, bleibt das Ohrensausen für die Ewigkeit. Wie lange, hängt beispielsweise auch davon ab, wie oft und wie stark man Party macht. Abgesehen vom Lärm gibt es dafür eine Menge andere Gründe: Stress, Bluthochdruck, Kiefer- und Zahnprobleme oder eine krumme Nasenscheidewand. Es gibt es über 200 verschiedene Ursachen.
Ich glaube es war bereits der erste Abend, an dem ich anfing durchzudrehen. Es gab bisher einige Tinnitus in meinem Leben, sicher ist, dass dies der Erste war, der nicht verschwand. Während ich im Bett lag, fragte ich mich immer wieder, wieso das ausgerechnet mir passieren musste und konnte mich nicht davon abhalten, weitere Informationen aus dem Internet zu lesen. In diesem Moment fühlte ich mich isoliert und geriet immer mehr in Panik. Außerdem war es mir beinahe unmöglich, einschlafen zu können, da die Geräusche alles andere übertönten. Damals ging ich jedes Wochenende feiern, wodurch meine Ohren viel zu oft Lärmpegeln ausgesetzt waren. Als ich im Bett lag und nach Gründen für meine Hölle suchte, realisierte ich, dass ich selbst schuld war – zu viele Partys ohne Ohropax.
Sonntagabend fuhr mich mein damaliger Freund zu einer HNO-Praxis in der Nürnberger Innenstadt, die an dem Tag Nachtbereitschaft hatte. Am Telefon erzählte ich der Arzthelferin von meinem Verdacht auf einen Hörsturz, weshalb ich sofort vorbeikommen sollte. Die Autofahrt blieb ruhig, ich fühlte mich in meinem Körper gefangen und konnte an nichts anderes denken, als „was ist wenn”. Immerhin gingen die Geräusche nicht weg und niemand außer mir konnte sie hören. Es war unmöglich, davor wegzulaufen, der Piepston begleitete mich überall hin. Am Anfang wird man damit ziemlich auf die Probe gestellt, was sich vor allem nachts bemerkbar macht. Die Einschlafprobleme versuchte ich mit Hörspielen zu übertönen, was halbwegs klappte. Oft weinte ich mich einfach nur in den Schlaf, weil ich mich nicht von dem Gedanken lösen konnte, dass meine Hörfunktion für immer gestört sein wird.
Wie begrenzt die Behandlungsmöglichkeiten für Tinnitus sind, merkte ich, als wir in der Notfallpraxis ankamen. Ich musste einen Hörtest machen und es wurde festgestellt, dass mein rechtes Ohr den größten Schaden abbekommen hatte. Das war auch jenes, welches neben dem Lautsprecher war. Vielmehr passierte nicht, sie schickten mich zurück nach Hause, mit dem Hinweis, falls das Piepsen nicht weggehe, könne ich wiederkommen. Da merkte ich zum ersten Mal, wie alleine ich mit meinem Problem bin.
In der darauffolgenden Woche ging ich zu einem anderen HNO. Erneut musste ich einen Hörtest machen, zudem wurden meine Ohren gereinigt und ich bekam eine Packung Cortison verschrieben. Das Medikament half mir nicht, vielmehr hatte ich die darauffolgenden Tage mit einem sogenannten Steroid-Entzug zu kämpfen, der sich bei mir durch Müdigkeit, Übelkeit und Halluzinationen bemerkbar machte. Einmal waren die Symptome so stark, dass ich mich in der Arbeit krankmeldete, um in die Notfallaufnahme zu gehen. Vergebens, die Ärztin konnte nichts finden.
Danach realisierte ich, dass mein Tinnitus nicht verschwinden wird, und ich fing an, mein Schicksal zu akzeptieren. Trotzdem ging ich ein weiteres Mal zum HNO, um eine weitere Meinung einzuholen. Bei dem neuen behandelnden Arzt fühlte ich mich gut aufgehoben, da er einen anderen Ansatz verfolgte als die Ärzte zuvor. Er sagte mir, dass eine Nasen-OP helfen könnte, da ich eine Nasenscheidewandverkrümmung habe – ich lies mich nicht operieren. Außerdem wies er mich darauf hin, dass mein nächtliches Knirschen eine mögliche Ursache für das Zischen sein könnte, weshalb ich künftig unbedingt mit Aufbissschiene schlafen sollte.
Heute, vier Jahre später, ist der Tinnitus immer noch da. Mit der Zeit lernte ich, damit umzugehen und dass das Gehirn in der Lage ist, das Piepsen im Allgemeinen auszublenden.
Was diese Geschichte mit meinem Lauftraining zu tun hat? Wenn ich im freien Sport mache und die Temperaturen abkühlen, fangen meine Ohren an zu schmerzen. Es ist ein unangenehmes Gefühl, dass mich an Marco Faraone und die Tatsache erinnert, dass ich einen Tinnitus habe. So merkwürdig das auch klingt, ich habe mein Schicksal angenommen und führe mittlerweile ein normales Leben – ich traue mich weiterhin auf Partys, doch nur mit einem Gehörschutz.
Illustration: @osaydon
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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.