Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen einer Essstörung.

Da stand ich also. 20 Kilo weniger. Ich betrachtete meinen Körper im Spiegel und mein einziger Gedanke war, wie abscheulich ich aussehe. In meinem Kopf war eine Pistole und sie feuerte ihre Kugeln unerbittlich auf meinen Geist. Nachdem ich unter Qualen so viel Gewicht verloren hatte, war ich mir sicher, dass der Pistole die Munition ausgehen würde – wenn ich endlich diese Zahl auf der Waage sehe. Doch weit gefehlt. Es wurde nur schlimmer und schlimmer. Also überlegte ich mir eine neue Zahl. Der Gedanke daran, diese Zahl zu erreichen, hielt mich über Wasser und lenkte mich von einer leisen Stimme in mir ab. Sie versuchte mir begreiflich zu machen, dass ich auf dem Holzweg bin. Dass ich so niemals glücklich werde kann. Doch ich schenkte ihr keine Beachtung. Also hasste ich weiter jeden Zentimeter an mir, quälte mich, beschimpfte mich und schämte mich für meinen Körper. Unter Tränen brach ich im Badezimmer zusammen, weil ich mein Spiegelbild nicht mehr ertragen konnte.

Ich war süchtig. Danach dünn zu sein. Die Bulimie übernahm meinen Körper und mit fortschreitender Sucht wurde sie zur Herrscherin über mein Leben. Unter keinen Umständen wollte ich mich in kurzen Klamotten zeigen. Ich fühlte mich wie ein Walross und konnte nur dann einen Bikini tragen, wenn mein Magen absolut leer war. Panische Angst hatte ich vor Shorts – da sie beim Gehen immer hochrutschten. Besonders unangenehm war mir das, wenn ich an Männern vorbeigehen musste. Es war Sommer, 36 Grad und für mich war das immer die schlimmste Zeit des Jahres. Meine Freunde verbrachten die meiste Zeit der Ferien am See. Sie gingen Pizza essen oder feierten Grillpartys. Ich stattdessen zog mich komplett von meinem Umfeld zurück. Meine Gedanken drehten sich nur mehr ums Abnehmen und Nichtessen. Ich wog mich mehrfach am Tag. Kontrollierte penibel, was ich zu mir nahm. Wehrte sich mein Körper mit einem Fressanfall gegen das permanente Hungern, zwang ich ihn unter Schmerzen über die Toilette, um alles wieder loszuwerden.

Typisches Kennzeichen der Ess-Brech-Sucht oder Bulimie sind wiederholte Essanfälle. Bei diesem zwanghaftem Essenverhalten werden in kurzer Zeit große Mengen Lebensmittel verschlungen. Ein weiteres Merkmal ist auch eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körper sowie die konstante Beschäftigung mit der Figur und Essen – wie bei der Magersucht. Gründe für das Erbrechen sind vor allem die Angst vor einer möglichen Gewichtszunahme sowie Scham über den eigenen Kontrollverlust. Die meisten halten daher Diäten, um sich in ihrem Körper zu gefallen, und haben zeitgleich mit stärker werdenden Heißhungergefühlen zu kämpfen. Nicht selten geht einer Bulimie auch eine Magersucht voraus. Häufig nehmen die Symptome der Magersucht ab, sodass sich das Körpergewicht normalisiert. Die Phasen der Bulimie und der Magersucht können auch über längere Zeit hinweg abwechseln. Was beide gemeinsam haben? Sie wollen dich um jeden Preis Hungern sehen.  Sie manipulieren dich, treiben dich in den Wahnsinn. Und trotzdem gibst du alles für sie, um endlich so zu sein, wie sie es von dir verlangen.

Aber warum setzen wir Schönsein mit Dünnsein gleich? Und wer bestimmt überhaupt was Schönsein bedeutet? Ab den 60er Jahren wurde die weibliche Schönheit ein öffentliches Thema und war von da an nicht mehr wegzudenken. Die Medien vermittelten täglich das damalige Schönheitsideal. Fast alle Frauen begannen nun ihren Körper überkritisch zu betrachten. So gab es schon früher eine große Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Ende der 60er Jahre gab es einen Boom an Schönheitsprodukten für Frauen. Diese erinnerten sie permanent daran, an ihrem Äußeren arbeiten zu müssen. Diätwahn, Schönheits-OP’s, Bodybuilding erhielten einen hohen Stellenwert. Das Modell Twiggy, mit ihrem zarten eckigen sehr dünnen Körper, schmalen Hüften und Schultern, prägte mit ihren 42 Kilogramm bei 170 Zentimetern das neue Ideal der Frau. Seit dieser Zeit dominiert das Schönheitsideal der extrem schlanken und teils sogar knochigen Frau.

Jahrelang hat Schönsein für mich Dünnsein bedeutet. Perfektsein. In Kleidergröße 34 passen. Ein flacher Bauch. Dünne Beine. Hervorstehende Hüftknochen. Doch die Wahrheit ist eine andere. Eine Essstörung macht nicht schön! Ich habe die Schnauze voll von diesem ganzen gesellschaftlichen Kack. Der jeden Tag wie Regen auf uns einprasselt und uns weismachen will, dass wir nicht gut genug sind. Endstation.

Heute kann mich besonders gut an eine Situation erinnern. Es war Spätsommer, meine Eltern waren wie immer um diese Zeit im Jahr nach Griechenland verreist. Ich hatte zwei Wochen lang sturmfreie Bude und statt einer großen Fete mit all meinen Freunden zu schmeißen, habe ich die ganzen zwei Wochen nur mit Essen und Kotzen verbracht. Ich verließ das Haus nur, um neue Lebensmittel zu besorgen, um mich danach wieder vollstopfen zu können. Dann ein kurzer Abstecher auf die Toilette und das Spiel ging von vorne los. Nach der ersten Woche war ich so kraftlos, dass mir sogar die Energie zum Brechen fehlte. Mein Körper streikte. Vollkommen erschöpft saß ich nun am Badezimmerboden. Ich fühlte mich so allein wie noch nie in meinem Leben.  „Und das wars jetzt? Das ist dieses Leben, von dem immer alle meinen, es sei so schön?“ „Das kann doch nicht alles gewesen sein.“ Ich hatte es satt, hier zu sitzen und das wahre Leben zu verpassen. Ich sehnte mich danach, mich wieder lebendig zu fühlen. Die schlimmste Erinnerung am Höhepunkt meiner Krankheit, über die ich gleichzeitig unendlich dankbar bin. Denn erst später habe ich erkannt, dass ich genau das erfahren musste. Denn erst jetzt war ich bereit, mir mein Glück zurückzuholen.

Ich begann irgendwann hinzunehmen, dass ich wieder zunehmen musste. Mein Weg von Selbsthass zu Akzeptanz. Starke Gewichtsschwankungen von bis zu 20 kg prägten die darauf folgenden Jahre. Ich habe mich extrem unwohl gefühlt und mich dafür geschämt. Natürlich hasste ich es, nicht mehr in meine 34 Jeans zu passen, aber dafür hatte ich eines: Ich konnte wieder essen! Ich hatte mein Leben zurück. Das härteste war, mich jeden Tag aufs neue gegen die Bulimie zu entscheiden. Es ist einfacher an alten Mustern festzuhalten, der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das war schon immer so. Auch wenn es mir in der Genesungszeit beschissen ging würde ich nichts dran ändern wollen, denn in dieser Zeit konnte ich so viel über mich selbst lernen. Ich wusste nun endlich wer ich sein wollte. Nämlich einfach nur ich. Meistens jedenfalls. In den letzten 3 Jahren habe ich wieder 10 Kilo zugenommen. Es gibt Tage da merke ich, dass die Essstörung wieder lauter wird und das Essen wieder mehr an Bedeutung gewinnt. Gerade jetzt, wo der Sommer vor der Türe steht und die Kleidung wieder kürzer wird, habe ich immer noch Probleme mich und meinen Körper zu akzeptieren. Ich vergleiche mich oft mit anderen und denke mir „Warum kann ich nicht so aussehen wie sie?“  Es gibt immer wieder Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob ich nicht doch wieder den Versuch starten sollte abzunehmen. Ja, nach all der Zeit lasse ich mich manchmal immer noch in den Sog der Selbstoptimierung hineinziehen. 

Warum lebt immer noch der Gedanke in mir abnehmen zu müssen? Warum assoziieren wir Abnehmen mit Erfolg und Zunehmen mit Misserfolg? „Wow, siehst du toll aus! Hast du abgenommen?“  Ein an sich harmloser Satz, der so viel Unheil anrichten kann. Gerade bei Aussagen wie dieser ist so viel Vorsicht geboten, deshalb denkt bitte dreimal darüber nach, ob ihr so etwas sagt. Versteht mich nicht falsch. Wir alle sollten vielmehr Komplimente verteilen! Schmeißt damit um euch! Aber seid dabei einfühlsam: Man kann toll aussehen und man kann abgenommen haben. Aber man sieht nicht toll aus, weil man abgenommen hat. Sondern höchstens, weil man ausstrahlt, dass man sich wohler fühlt. Und das ist ein erheblicher Unterschied.

Für mich bedeutet Schönschein einfach nur Glücklichsein. Und das bedeutet wiederum essen, leben, lachen, ich sein dürfen. Ich war zigmal kurz vorm Aufgeben, habe mir schon so oft den Kopf darüber zerbrochen. Gewichtszunahme hin oder her. Doch das Allerwichtigste ist: Ich habe durchgehalten. Ich habe Freundschaft mit meinen Körper geschlossen, der mein Leben lang mein schlimmster Feind war. Habe ihn ganz fest umarmt, auch wenn er wie wild um sich geschlagen hat.

Autorin: Natascha Renner
Illustration © tarantrullart

Quellen: psychenet.de, neurologen-und-psychater-im-Netz.org, stylebook.de,

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